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Orwell, Huxley und Corporate Politics: Stalinismus als strukturelle Metapher

brave new texts

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In den Kommentaren zu meinem Werbeblogger-Eintrag Publikation 2.0: Nun fast in echt [RIP] wurde die Frage aufgeworfen, ob im Umfeld korporierten Handelns, wo es lediglich um materielle Werte geht, Vergleiche mit politischen »Säuberungsaktionen« nach stalinistischem Vorbild deplaziert seien.

Um Verwechslungen vorzubeugen, die möglicherweise dadurch befördert werden, daß im Deutschen der Unterschied zwischen “purge” und “cleansing” verlorengeht: Mit »Säuberungen« sind politische Säuberungen gemeint, nicht Genozid oder genozidnahe Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie der Holodomor. Auch sind nicht speziell die Stalinschen Säuberungen gemeint als konkretes historisches Ereignis. Gemeint sind vielmehr — und eine Anspielung auf das stalinistische Nordkorea war ebenfalls Teil dieser Metapher — spezifische Formen struktureller Paranoia mit spezifischen Handlungsmustern, die sich im Umfeld politischer und wirtschaftlicher Machtkonzentrationen ausbilden können. Ist diese Anspielung jenseits der Gefährdung von Menschenleben im Umfeld eines Hard- und Software-Unternehmens überzogen? Natürlich. Doch zum einen ist sie nicht überzogen in dem Sinne, wie eine inhaltlich motivierte Metapher dies wäre, zum anderen sollte sie polemisch sein. Ich neige generell dazu, wirtschaftlichen Vektoren zu politisieren, weil wirtschaftliche Vektoren in der Regel politisch sind. Ich neige auch generell dazu, solche Politisierungen zu eskalieren, weil im politischen Kontext zahmere Metaphern oft beliebig und unverbindlich erscheinen.

Während wir uns in der politischen Arena gegen die mal anschwellende, mal abschwellende Flut von Zensursulismen stemmen, werden auf der wirtschaftlichen Seite Grundrechte durch Industrienormen, Patente und Verwertungsrechte ausgehöhlt. Zu denen sich zunehmend die Gefahren des sogenannten »Splinternets« gesellen, im Zuge dessen unsere digitalen Lebensräume in korporierte Hoheitszonen aufgeteilt werden. In denen “free speech” und andere Grundrechte nicht greifen, weil korporierte Räume keine öffentlichen Räume sind, sondern »private« — korporiert quasi-private Räume, in denen das Hausrecht grundsätzlich über Rechten wie der freien Rede oder der freien Entfaltung der Persönlichkeit steht. Und in einigen dieser korporierten Räume werden von Verwertungsrechten völlig unabhängige Zensurmechanismen bereits zu einem integralen Bestandteil des Systems, an denen sich bestimmte und bekannte Formen paranoiden Kontrollwahns erkennen lassen. Zu denen auch die kapriziöse und gerade durch ihre systematische Unberechenbarkeit schikanöse Art gehört, mit der sie angewendet werden, einschließlich vorauseilenden Gehorsams und kafkaesker Verläufe von Widerspruchsverfahren.

Solcherart strukturelle Paranoia im Umfeld von (politischer wie wirtschaftlicher) Machtkonsolidierung und Machtausweitung hat einen Namen, und ich finde, der sollte auch benutzt werden. Denn Nineteen Eighty-Four als Meßlatte ist geeignet, schwindelig zu machen. Wie sehr wir uns bereits daran gewöhnt haben, daß Rechte im Umfeld von medialer Kulturpartizipation, informationeller Selbstbestimmung und allgemeiner Redefreiheit ausgehöhlt werden, wird offenbar, wenn Old-School-Humanisten wie Neil Postman und im Gefolge Frank Schirrmacher1 lamentieren, daß wir nicht auf die Welt von Nineteen Eighty-Four zusteuern, sondern auf Huxleys Brave New World: daß es keinen (aktiven) »Großen Bruder« als von außen kommende Macht gebe, sondern wir uns (passiv) von den neuen Technologien freudig unsere Denkfähigkeit nehmen und uns von ihnen kontrollieren lassen.

Aber der »Große Bruder« im Orwellschen Sinn ist weder eine Person noch eine »äußere Macht«. Der »Große Bruder« ist ein System, das von Menschen mit politischer und korporierter Macht geschaffen wird. Wer glaubt, daß unser Hauptproblem die Passivität der Massen ist, hat bereits von dem Kool-Aid getrunken, das in Nineteen Eighty-Four als Bier in den Proles-Kneipen ausgeschenkt wird, und wartet wehmütig auf den Gewinnboten der Orwellschen Lotterie2 — hoffend auf den Hauptgewinn einer Neuauflage des humanistischen Bildungssystems wie auf eine kaiserliche Botschaft.

1 Schirrmacher, Frank. Payback. München: Karl Blessing, 2009. 93. 
2 “They were talking about the Lottery. Winston looked back when he had gone thirty metres. They were still arguing, with vivid, passionate faces. The Lottery, with its weekly pay-out of enormous prizes, was the one public event to which the proles paid serious attention. It was probable that there were some millions of proles for whom the Lottery was the principal if not the only reason for remaining alive. It was their delight, their folly, their anodyne, their intellectual stimulant. Where the Lottery was concerned, even people who could barely read and write seemed capable of intricate calculations and staggering feats of memory. There was a whole tribe of men who made a living simply by selling systems, forecasts, and lucky amulets. Winston had nothing to do with the running of the Lottery, which was managed by the Ministry of Plenty, but he was aware (indeed everyone in the party was aware) that the prizes were largely imaginary. Only small sums were actually paid out, the winners of the big prizes being non-existent persons. In the absence of any real inter-communication between one part of Oceania and another, this was not difficult to arrange.” (Chapter 8) 
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