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»Kann mir irgendjemand sagen, was an dieser Rechtschreibreform nicht stimmt!«

brave new texts

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Egal, ob ich als Schreiber die neue oder alte Rechtschreibung verwende: für einen Teil meiner Leserschaft ist mein Text nicht »transparent«. Dies ist fatal.

Persönlich halte ich die Rechtschreibreform für eine Katastrophe. Das allein wäre noch nicht so schlimm. Exponentiell nervig ist, daß ich und andere, die diese Ansicht teilen, regelmäßig in die ausgehobenen Schützengräben der fanatischen Reformgegner komplimentiert zu werden drohen. Diese Schützengräben, das ist evident, sind gestopft voll mit Sprachreinigern und Sprachariern, mit Linguistikamateuren, Grammatikanalphabeten und Sprachgeschichtslegasthenikern und ganz allgemein mit zahllosen unermüdlichen Propagatoren für ein reinlich gesprochenes und geschriebenes Deutsch ohne Reformen, Anglizismen und ganz besonders ohne Wandel — Leute, die jederzeit bereit sind, sich bis unter die Achselhöhlen einzudrecken, um einen Fehlgebrauch von Bindestrich und Apostroph auch aus den letzten, hingekritzelten Döner- und Currywurst-Menüs mit bloßen Fingern herauszugraben, sich aber ihre makellosen und delikaten Fingerchen aus Samt und Seide keinesfalls an etymologischen Lexika oder anderen inhaltlich und strukturell komplexen Nachschlagewerken stoßen wollen.

Warum ich die Rechtschreibreform für ein komplettes (aber nicht rückrollbares) Fiasko halte, beruht auf einer ganzen Reihe von Erfahrungen und Entwicklungen. Um es nicht zu übertreiben, möchte ich mich in diesem Eintrag auf eine Handvoll Aspekte beschränken, die sich in den folgenden vier Spiegelstrichen finden.

  • Nach den bisherigen Erfahrungen und Beobachtungen scheint die neue Rechtschreibung nicht spürbar weniger kompliziert oder weniger schwierig zu sein als die alte.

Die alte Rechtschreibung war insgesamt ziemlich unlogisch und umständlich und streckenweise auch idiotisch — nicht untyptisch für gewachsene Strukturen, insbesondere solche, in denen Phänomene der Unsichtbaren Hand eine Rolle spielen. Aber weder Sprache noch Schriftsprache folgen »logischen« Gesetzlichkeiten; dies ist einer der großen Mythen, mit denen Verfallstheoretiker und Präskriptivisten (zwei Namen für dieselbe Spezies) seit Jahrtausenden die Menschen quälen wie der eine Nachbar in jeder Siedlung, der Samstag morgens um neun seinen Rasen mähen muß. Insofern kann jede Reform, die sich zum Ziel setzt, die Rechtschreibung von Grund auf »logischer« anzulegen, nur spektakulär vor die Wand fahren. Allein die im Zuge der Reform veranstalteten Wortwurzelschreibungsverrenkungen waren geradezu hysterisch irrelevant und hinterließen »Ausnahmen« dann bloß ein oder zwei Wortformen später. Mit Verlaub: &%$&!! auf die Logik! — wenn die Reformer statt ihrer grandiosen Flausen sich mehr darauf konzentriert hätten, Dinge nicht systematisch logischer, sondern tatsächlich systematisch einfacher zu machen, hätten wir jetzt vielleicht wirklich eine weniger fehleranfällige, einfachere Rechtschreibung statt einer anders komplizierten, die im großen und ganzen von genauso vielen Menschen nicht beherrscht wird wie die alte. Und übergangsweise, wie bei Neuerungen generell zu erwarten ist, von noch mehr.

  • Der kurzfristig desaströse, mittelfristig schmerzhafte und langfristig bestenfalls mikroskopische Effekt, den die Reform auf die allgemeine Rechtschreibsicherheit ausübt, steht, wie ich meine, in keinem Verhältnis zu dem breiten gesellschaftlichen Dissens, den sie hervorrief.

Ich habe keine Probleme mit Dissens (sollte klar sein). Es lohnt sich auch durchaus, einen brandneuen Dissens zu erzeugen, wenn dabei Ziele erreicht werden und Dinge vollbracht werden. Vorzeigbare Dinge. Dinge, die sinnvoll sind und in Relation zu den Absichten und Versprechungen stehen. Mehr muß ich, glaube ich, nicht dazu sagen.

  • Statt eines Rechtschreibstandards haben wir nun fünf.

Meinen Kunden biete ich für die End- bzw. Fahnenkorrektur in meinen Angeboten an, ihre Werbemittel in ihrer Wunschrechtschreibung umzusetzen: klassische; konservative neue; progressive neue; Dudenempfehlungen (einschließlich deren Idiosynkrasien); die Hausorthographie der deutschen Presseagenturen. — »Vereinfacht«, LOL!

  • Bei beliebig gewähltem Rechtschreibstandard gilt für jede beliebige Leserschaft meiner fiktionalen Arbeiten, daß sich unter ihnen eine mehr oder minder große Anzahl von Menschen befindet, die aufgrund meiner gewählten Rechtschreibung nicht in der Lage sind, den Text »zu vergessen« und sich unmittelbar in die Geschichte zu versetzen.

Egal, welchen Standard ich wähle: Für eine bestimmte Anzahl von Menschen bin ich für Jahre, vielleicht für Jahrzehnte, nicht in der Lage, so »transparent« zu schreiben, daß das Geschrieben-Sein nicht mehr wahrgenommen wird. Bummer.

Das reicht erstmal, denke ich. Mit einem eigenen Eintrag bedenken möchte ich nächste Woche einen weiteren Punkt, der mit dem Duden selbst zusammenhängt und mit »präskriptiven« Elementen im Umfeld von Reform und Diskussion, die sich auf kontraintuitive Weise gegenseitig den Rücken stärken, während sie sich in den Hintern treten.

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