Eine langatmig-belehrende “Longcopy” als Agentur-Eigenwerbung ohne jede Longcopy-Techniken, die erst auf halber Strecke mit der Brechstange zum Thema kommt.
Das nächste Spezimen ist eine ganzseitige Printanzeige von der portugiesischen Werbeagentur Fischer, Lisboa, für sich selbst. Während deren Website sich zweifach in beredtem Schweigen übt durch die Abwesenheit von Inhalten auf der einen Seite und No-breaking-spaces als bevorzugter Gestaltungshilfe auf der anderen,1 hat diese Eigenwerbung plötzlich richtig viel zu sagen, in (halbwegs) lesbarer Größe hier: “A Few Words About the Crisis, Some Underwear, And the Importance of Keeping Your Head Up”.
Zunächst die Headline. Diese weist keinerlei Ähnlichkeiten auf mit irgendeiner Headline-Technik, die sich im Bereich Longcopy als “tried & true” identifizieren ließe. Monty Python kommt in den Sinn, nur nicht so witzig. Welchen Vorteil verspricht mir die Headline dafür, daß ich ein gutes Stück meiner knapp bemessenen Zeit nicht etwas anderem anvertraue, sondern diesem langen Text? Insbesondere nicht etwas anderem, von dem ich bereits weiß, daß es mich interessiert? Nun, in erster Linie verspricht sie mir, mich zu belehren. The importance to keep my head up. Klingt vage nach Oscar Wilde, nur nicht so witzig.
Als nächstes fehlen auffällig irgendwelche Zwischentitel. Offenbar um zu verhindern, daß ich eine Ahnung davon bekomme, worauf ich mich einlasse. Suspense! Ein einführender Absatz? Auch Fehlanzeige. Das Visual? Eine Telephonzelle. Offenbar soll ich irgendwo anrufen? Aber warum aus einer Telephonzelle? Macht nicht wirklich Sinn und bekommt hier eher Clip-Art-Charme, ähnlich wie die Hibbel-Gifs für E-Mail-Links im Internet von 1996.
Der erste Absatz ist gepackt voll mit absurden Informationen, die Teaser-Charakter haben sollen. Ein wesentliches Merkmal von “Teaser” wurde jedoch übersehen — nämlich, daß es mich die Bohne interessieren soll. Und ist das Hochkomma in der vorletzten Zeile wirklich ein Apostroph, nicht ein Akut? Na gut, im Zweifel für die Angeklagten den Font.2
Im zweiten Absatz kommen wir allmählich zum Thema: Es geht um Superman. Hahaha! Eine Verbindung zum Visual. Umziehen in der Telephonzelle, Kommunikation! Marke! Jetzt kommt bestimmt auch bald der Absatz, warum mich das interessiert.
Aber nein! Zunächst ein paar rührselig-romantisierende Zeilen über Siegel und Shuster, die in Wirklichkeit mit ihren gierigen Verlagen in juristische Schlachten verwickelt waren und später in faktischer Armut lebten, bis Warner ihnen freiwillig eine Pension zukommen ließ. (Für an diesen Zeiten und an dieser Branche Interessierte empfehle ich den in jeder Hinsicht phantastischen und mit dem Purlitzer-Preis für Fiction ausgezeichneten Roman The Amazing Adventures of Kavalier & Clay von Michael Chabon.)
Nächster Absatz: Die Große Depression! Aaaah, die Krise. Da ist sie. Wir sind durch den halben Text der Longcopy durch, und alles, was bis jetzt passierte, war das Etablieren des Themas. Schnell notieren, damit ich mich an diese neue und faszinierende Technik erinnere, wenn ich meinen nächsten Roman schreibe. 250 Seiten lang die Handlung vorbereiten! Das wird ein Verkaufsschlager.
Den nächsten Absatz muß ich zitieren, sonst glaubt mir das kein Mensch. Jetzt kommt der Text nämlich plötzlich zur Rolle von Agenturen:
A little bit like in advertising today, the two teenagers worked as a team where together they would think of comic book stories and then one would take care of the writing while the other would do the art direction.
Für diese Art von Überleitung gibt es einen Fachbegriff: Wir nennen es die “Apropos of Nothing”-Technik. Gefolgt wird dies von weiterer Shuster-&-Siegel-Sülze, wiederum liebevoll mit der Brechstange thematisch abgerundet:
In the middle of the crisis, in the middle of the depression, a product of the imagination evolved to be one of the greatest characters, brands and franchising cases in history. And all that was done with a guy wearing underwear over his pants.
Well, one thing is certain: crisis can be cruel, but good ideas are invincible.
End of copy.
Reboot brain.
Noch kontraproduktiver als solche Texte finde ich für unser Werbehandwerk aber jene Menschen in den Agenturen, die nicht müde werden zu behaupten, Longcopy werde nicht gelesen. Nicht nur offenbart dies ein kraftvolles Unwissen über Statistiken aus der Zeit, als Werbewirkungen tatsächlich noch gemessen wurden. Es offenbart auch ein profundes Unvermögen, Ursache von Wirkung zu unterscheiden: Damit Longcopy gelesen wird, muß sie auch geschrieben werden. Und damit Longcopy geschrieben wird, muß sie auch jemand schreiben.
Womit wir wieder beim Grundproblem angekommen wären! Ein Text macht noch keine Copy, ein langer Text macht noch keine Longcopy, einen Text zu schreiben macht noch keinen Texter und keine Texterin. Ich weiß, das ist schwer zu begreifen! Aber unser Gehirn, das zeigt sich immer wieder, ist zu gewaltigen Leistungen fähig.
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