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Der menschliche Faktor

Vodafone live 3G

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Werbung für Mobiltelephone und -verträge fällt vor allem durch zwei Dinge auf: mikroskopische Schrift und grinsende Gesichter.

Es gibt viele Gründe, warum mich die Werbung für Mobiltelephonie seit längerem rundum ankotzt, und dazu gehört nicht nur die derbe Unverschämtheit mehrfach verschachtelter Fußnoten mit weißer Schrift auf farbigem Grund in 4 Punkt Pica, oder meine Unfähigkeit, das Land zu finden, in dem Menschen beim Telephonieren dauerhaft Orgasmen haben, siehe oben. Hauptgrund meiner Abneigung, dachte ich bisher, wäre die generische Beliebigkeit der Illustration: telephonierende Menschen in Halbtotale bis Großaufnahme. Aber Werbung für andere Produktsparten von Auto bis Hundefutter sind ebenso generisch und gehen mir nicht halb so maßlos auf den Wecker. Wo ist der Unterschied? Gibt es einen?

Zufällig las ich die Tage in einem leider fußnoten- und nachweisfreien Essay, daß es in den 50er und 60er Jahren aufgrund diverser Studien relativ gängiges Wissen gewesen sei, daß Nahaufnahmen von menschlichen Gesichtern abschrecken und in der Werbung zu vermeiden wären. Darüber würde ich natürlich gerne mehr wissen wollen, und vielleicht schaffe ich es ja bei Gelegenheit, in der Uni nach Studien dieser Art zu fahnden. (Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften ist bei den Sozialwissenschaften, was Online-Recherche angeht, leider immer noch Closed Access de rigueur.) Aber mal angenommen, daß da etwas dran ist — wie konnte dieses Wissen dann so offensichtlich verloren gehen? Vielleicht im Zuge der Italo-Western der 60er- und 70er-Jahre, die uns die »Italienische Einstellung« (im Englischen noch treffender “Italian Shot” genannt) bescherten? *kicher*

Aber es würde anderen populären Wissensbröckchen nicht unbedingt zuwiderlaufen. Es ist wahr, daß menschliche Formen und insbesondere Gesichter zu den visuellen Reizen gehören, auf die wir am stärksten reagieren. Und es ist ebenso wahr, daß Geschichten mit ausgeprägt »menschlichem Faktor« uns in der Regel am stärksten fesseln. Aber Bilder von Menschen in generischer Umgebung mit ans Ohr genageltem OrgasmotronMobiltelephon sind noch keine Geschichte, und das Erregen von Aufmerksamkeit hat zunächst nichts mit dem Hervorrufen von Vertrauen und Sympathie zu tun. Auch Grizzlies stehen in punkto Wahrnehmung und Aufmerksamkeit ganz hoch auf unserer Liste.

Apropos Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Eigentlich verdient Werbung für Mobiltelephonie noch einen speziellen, dem Darwin-Award nachempfundenen Suizid-Preis der besonderen Art. Denn nicht nur ähneln sich all diese Bilder telephonierender Menschen wie ein Ei dem anderen, sie unterscheiden sich nicht einmal von ihrer unmittelbaren, realen Umgebung! Vermutlich erfüllt das dämliche Dauergrinsen auf dieser Werbung die gleiche Funktion wie die aufgeklebten Vögelchen auf Fensterscheiben: Um zu verhindern, daß die Leute anfangen, Handy-Plakate nach dem Weg zu fragen oder ihnen die Obdachlosenzeitschrift anzubieten.

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