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Das Guttenberg-Krislein und die Modellierung einer Post-Demokratie

brave new texts

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Arnulf Baring:
»Als ich meinen Essay ›Bürger auf die Barrikaden‹ vor Jahren veröffentlichte, sagte mir Roman Herzog lächelnd: ›Wissen Sie, wie viele Genehmigungen man in Deutschland braucht, um eine Barrikade zu errichten? 17!‹«

Guttenberg ist ein Mogelpeter vor dem Herrn ist ein schönes und absolut lesenswertes Interview. In der Welt und mit Arnulf Baring, aber in dieser Debatte ist die erhellende Kraft von Beiträgen nicht davon abhängig, ob sie aus progressiver oder konservativer Perspektive stammen, sondern davon, daß sie politisch und nicht parteipolitisch motiviert sind.

Überhaupt: Nicht nur im Rahmen dieser Debatte wird der Begriff »parteipolitisch« zunehmend zur contradictio in adjecto. Was bedeutet es für unser »modernes« Verständnis von Demokratie als Mehrparteiendemokratie, wenn im Herzen Europas machtbefüllte Figuren herumkaspern wie Souverän Sarkozy und Sultan Berlusconi? Wenn politisches Theater polarisiert zwischen Regieren nach Gutsherrenart in Deutschland und Orwellisierung in Großbritannien? Wenn Wahlvölker weltweit weniger für zukünftige Politik abstimmen als für die Verstaatlichung ihres Lieblingsaberglaubens? Wenn ganze Demographien in der Supermacht USA von einer in echten Demokratien historisch einzigartigen Propagandamaschine wie Fox News radikalisiert werden, während Facebook nach China und Indien zum drittbevölkerungsreichsten »Land« der Erde aufgestiegen ist? Oder, nicht zu vergessen, wenn die Mitglieder entscheidender Gremien mit globaler Wirkungsmacht wie EU-Rat oder WTO nicht gewählt werden, sondern berufen?

»Demokratie« hat historisch sehr Unterschiedliches bedeutet. Wir erinnern uns: Als Demokratie wurde ursprünglich die Ausübung politischer Macht durch reiche Männer über eine Sklavengesellschaft in Mittelgriechenland bezeichnet. Was böten sich, für eine Demokratie der Zukunft, an Möglichkeiten? Etwas wie die von den Piraten angestoßene Liquid Democracy? Vielleicht — wenn ein solches System nicht nur technisch reibungslos funktionieren, sondern sich auch immunisieren könnte gegen die in basisdemokratischen Kontexten endemische Konservierung und Abschottung partikularer Privilegien; die Geschichte von Wahlrecht und Bürgerrechten in repräsentativen vs. direkten Demokratien ist an warnenden Beispielen reich. Dieses Problem liegt ganz besonders auch darin begründet, daß Demokratie viel mehr sein muß als bloß »gleiches Recht für alle«. Sehr wesentlich, und das wird auch gern mal ganz absichtlich übersehen, ist die Metaebene der demokratischen Verfassung, die unter anderem dafür sorgen muß, daß zwei Wölfe und ein Schaf nicht basisdemokratisch darüber abstimmen können, was es zum Abendessen gibt. (In diesem Licht ist auch der aus Funk und Fernsehen bekannte Rechtsaußenreflex in Deutschland oder den USA zu sehen, Privilegien über Zusätze zur Verfassung abzusichern und die Metaebene so zu instrumentalisieren und zu implodieren.)

Auch nach Ländern, in denen Demokratien (basis-)demokratisch abgeschafft wurden, muß niemand lange suchen. Und das, was aus der einstigen Grand Old Party Lincolns und Teddy Roosevelts geworden ist, möge als aktuelles abschreckendes Beispiel dienen: eine Partei, deren aussichtsreichste Kandidaten und Kandidatinnen für die Präsidentschaftswahl 2012 mit einer einzigen Ausnahme allesamt als »Kommentatoren« auf der Gehaltsliste von Rupert Murdochs FoxNews Channel stehen, und deren erfolgreiche politische Nachwuchsstars sich zunehmend rekrutieren aus dem unmaskiert rassistischen und theokratischen Handlungsarm der “Tea Party” als Pseudo-Grassroots-Bewegung, deren Politik auch gerade diejenigen verwundbar macht, die sie am enthusiastischsten unterstützen.

Was bleibt zwischen klassischer »Parteipolitik«, die mittlerweile entweder so lächerlich geworden oder so unterwandert worden ist, daß sie den Worteil »politisch« im Sinne von »demokratisch« kaum noch verdient, und einer Basisdemokratie mit ihren deprimierend ausgrenzenden Tendenzen und ihrer Anfälligkeit für selbständige wie medienimperiale Demagogen mit Agenda?

Die Antwort ist denkbar einfach: Das Entwickeln neuer Modelle. Andere nennen es Visionen, aber da ich eher pragmatisch-wissenschaftlich orientiert bin, liegt mir der Begriff Modell persönlich näher. Radikal neue Modelle, die den gesamten Kreislauf von Bildung und Demokratie umfassen für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, und die wir unaufhörlich gegen die Wirklichkeit testen und verfeinern mit all den Mitteln, die uns durch die globale Vernetzung zur Verfügung stehen. Ohne dabei das konkrete Einführen und Implementieren zu vergessen: Bildung, Bildung als Aufklärung und Demokratie waren immer provisorisch, immer eine démocratie à venir.

Und was haben wir zur Zeit statt dessen? In der Bundesrepublik: Eine Kanzlerinnenvision von 50Mb/s bis 2014 für alle deutschen Haushalte. Barbara »Die Kultur bin ich« Kisseler mit ihrer von Sachkenntnis ungetrübten Immaterialgütermonopolvision als Signal des Wechsels. Die Traumvision der Gewerkschaften von der vollständigen Überwachungsgesellschaft nach literarischem Vorbild. Und alles, was Grün ist — äh, hm — irgendwas mit Energie und Atomkraft, in letzter Zeit besonders geprägt von den Visionen eines schollenfokussierten Heugabel-Mobs, der echte wissenschaftliche Grundlagen für Debatten mit Schimpf und Schande als vermeintliche Monstrositäten aus dem Dorf zu jagen sucht. Und in den wilddemokratischen Weiten des Webs verstehen sich Klimawandelleugner, Holocaustleugner und Geschichtsleugner (sprich: Kreationisten) bei freundlichem Diebels am Paranoia-Buffet, inszenieren täglich ihr Weimar im Wasserglas gegen die zionistische Weltverschwörung und träumen vom Ende der Demokratie, wie wir sie kennen.

Was ich unter »Post-Demokratie« verstehe ist nicht das Ende von Demokratie, sondern ganz im Gegenteil die substantielle Neuerfindung von Mitbestimmung für das digitale Zeitalter als modellbildender, visionärer Prozeß in einer dynamischen Democracy-to-Come. Die Guttenberg-Krise selbst ist zwar bloß ein Krislein, aber mit ihrer Frontalattacke auf Bildung und Demokratie durch simulierte Wissenschaft und adliges Schaulaufen — lokal unterstützt von der Bild-Zeitung als gewerbsmäßigem Ressentiment- und Sentiment-Intensivierer — steht sie pars pro toto für die Kräfte einer Restauration, deren Wirkung wir ganz allmählich erst zu spüren bekommen. Wenn wir Bildung und Politik nicht sehr bald sehr radikal revolutionieren, wird der Begriff der »Post-Demokratie« für unsere Nachfolgegenerationen ganz andere Bedeutungen gewinnen als die intendierte: Bedeutungen, die wir uns heute nicht vorstellen möchten und vielleicht auch noch gar nicht können.

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3 Responses

  1. Die Theorie dazu liefert Colin Crouch u.a. in seiner Monografie Postdemokratie (Suhrkamp).