Der Schwarm von Frank Schätzing
Ein Lektorat findet nicht statt: Frank Schätzings Der Schwarm als die Bild-Zeitung des deutschen Genre-Romans.
Was mich weniger faszinierte ist, wie grottenschlecht Der Schwarm geschrieben ist oder warum er sich wie geschnitten Brot verkauft. Denn beides trifft auch zu auf die Dan Brown-Romane und unzählige tote Bäume in den Bestseller-Listen der New York Times. Aber mit seinem aggressiv-populistischen Voyeurismus ist Frank Schätzings Der Schwarm die Bild-Zeitung des deutschen Genre-Romans.
Es ist faszinierend, wie Frank Schätzings Der Schwarm mit seinen rassistischen und sexistischen Unter- und Obertönen so glatt vom Manuskript bis zum Literaturpreis segeln konnte, ohne irgendwo aufzulaufen. Während der Satz im deutschen Grundgesetz Eine Zensur findet nicht statt zunehmend zur Realsatire wird, gewinnt ein anderer Satz im Kontext deutscher Literatur-Kultur leider zunehmend und ernsthaft an Bedeutung: Ein Lektorat findet nicht statt.
Während es sich an anderer Stelle lohnt, zu diesem Thema in die Tiefe zu gehen und zum Beispiel auch zu fragen, was an einer Amtseinheit von Justiziar und Lektoratsleiter vielleicht nicht ganz in Ordnung ist, lohnt es sich in diesem Falle tatsächlich nicht. Denn für Genre-Romane wie Der Schwarm wäre jede Lektoratsleistung, in all ihren Facetten, so kontraproduktiv wie ein Fakten-Korrektorat bei der Bild-Zeitung oder The Sun. Leider jedoch gibt es kein BILDblog für deutsche Genre-Romane, und wo ist der oder die deutsche Geoff Pullum, wenn sie gebraucht wird!
Etliche Passagen aus dem Schwarm habe ich für Schreib-Workshops als eine Art Anti-Technik-Fibel verwendet. Aber wie erwähnt finde ich es viel befremdlicher, wie so viel inhaltlich Dubioses unter dem kulturellen Mindestqualitätsradar durchsegeln kann. Das ruhte eine ganze Weile, bis wir heute in einem Minidiskurs auf Wavetank [RIP] im Kontext meines Workshop-Zitationskorpus’ zu einer vorläufigen Definition dieser Art von populären Werken als Aggressiv-populistischer Voyeurismus gelangten. Fragen, die sich um diese Definition rankten, betrafen mögliche Elemente von »Selbstreflexion und Zynismus« via der Gedankenbrücke, daß Voyeurismus und das An- und Herauskitzeln niederster Instinkte ein Element der Selbstreflexion beinhalten müsse und damit auch automatisch eine Prise Zynismus. Da ist etwas dran. Aber die Frage bleibt, weniger bei Bild als beim Schwarm, ob diese Selbstreflexion wirklich bewußt ist. Denn Onanieren vor dem Spiegel beispielsweise ist eine Art der Selbstreflexion, die durchaus ohne Zynismus ausgeliefert wird.
Zur Illustration fünf Juwelen zu verschiedenen Themen aus meinem Zitationskorpus.
Schwarze Männer aus der Bronx
Dramatis personae: CIA-Direktor Vanderbilt, U. S. Army General Judith Lee, U.S. Army Colonel Salomon Peak
Vanderbilt wälzte seine Massen zum Pult. Li verfolgte ihn mit zusammengekniffenen Lidern. Sie sah zu, wie der Stellvertretende Direktor der CIA eine lächerlich kleine Brille auf seine Nase nestelte, was sie mit einer Mischung aus Belustigung und Widerwillen erfüllte.
»Scheißviecher ist durchaus der richtige Begriff, Sal«, sagte Vanderbilt gut gelaunt. Er strahlte in die Runde, als habe er die Frohe Botschaft zu verkünden. »Aber wir werden den kleinen Scheißern Feuer machen, dass ihnen der Arsch glüht. Ich versprech’s euch. — Gut, kommen wir zu dem, was wir vermuten. Viel ist es nicht. Das liebe Öl, von dem wir alle so abhängig sind, dass wir’s am liebsten saufen würden, kaputschnik! In Wirtschaftsparametern ausgedrückt heißt das, wir können einen erheblichen Teil der weltweiten Produktion abschreiben. Für die Kameltreiber von der OPEC eine feine Sache. [usw. usw. usw. usw.] Europa sendet das Testbild. Europa ist im Arsch!«
Vanderbilt förderte ein weißes Taschentuch zutage und tupfte sich die Stirn ab. Peak war kurz davor, sich zu übergeben. Er hasste diesen Mann. Er hasste es, dass Vanderbilt niemandes Freund war, wahrscheinlich nicht mal sein eigener. Ein Defätist, ein Zyniker, eine Dreckschleuder. Am meisten hasste Peak, dass Vanderbilt in fast allem, was er sagte, Recht behielt. In seinem Hass auf Vanderbilt war er sich sogar mit Judith Li einig.
Abgesehen davon hasste er auch Li. Manchmal hatte er sich bei der Vorstellung ertappt, wie er Li die Kleider vom Leib riss und ihr auf dem verdammten Laufband die Süffisanz austrieb, dieses arrogante Gehabe einer Tochter aus gutem Hause, der man den Fremdsprachenunterricht und die Diplome nur so reingeblasen hatte. In solchen Momenten kam der Salomon Peak in ihm zum Vorschein, der unter anderen Umständen wahrscheinlich Anführer einer Gang, Dieb, Vergewaltiger und Mörder geworden wäre.
Dieser andere Peak ängstigte ihn. Der andere Peak glaubte nicht an die Ideale von West Point, an Ehre, Ruhm und Vaterland. Er war wie Vanderbilt, der alles in den Dreck zog und durchblicken ließ, der Dreck sei die Realität. Der andere Peak war im Dreck groß geworden. Ein schwarzer Mann, geboren im Dreck der Bronx. (480–82)
Schwarm-Physiognomien
Dramatis personae: Dr. Murray Shankar, NOAA
Aus der ersten Reihe erhob sich ein untersetzter, schüchtern wirkender Mann mit indischem Gesichtsschnitt und Goldrandbrille. (486)
Schweiß
Dramatis personae: U. S. Army General Judith Lee, Der Präsident der Vereinigten Staaten
Als Erstes ging sie auf ihr Laufband. Sie programmierte den Computer auf neun Stundenkilometer, was einen gemütlichen Trab ergab. Dann ließ sie eine Verbindung zum Weißen Haus herstellen. Nach zwei Minuten vernahm sie die Stimme des Präsidenten im Kopfhörer.
»Jude! Schön, von Ihnen zu hören. Was machen Sie gerade?«
»Ich laufe.«
»Sie laufen. Bei Gott, Sie sind die Beste, Mädchen. Jeder sollte sich ein Beispiel an Ihnen nehmen. Nur ich nicht.« Der Präsident lachte laut und kumpelig. »Sie sind mir entschieden zu sportlich. — Verlief die Präsentation zu Ihrer Zufriedenheit?« [usw. usw. usw. usw.] Oder in China und Korea. Apropos Asien, ich habe das Dossier durchgeblättert über Ihre Wissenschaftler. Da ist einer, der asiatisch aussieht. Hatten wir nicht gesagt, Asiaten und Araber außen vor?«
»Ein Asiate? Wie heißt er?«
»Komischer Name. — Wakawaka oder so ähnlich.«
»Oh, Leon Anawak. Haben Sie seinen Lebenslauf gelesen?«
»Nein, ich hab’s nur überflogen.«
»Er ist kein Asiate.« Li steigerte das Tempo auf zwölf Stundenkilometer. »Ich bin das mit Abstand Asiatischste im Umkreis des kompletten Whistlers.«
Der Präsident lachte.
»Ach Jude. Sie könnten vom Mars stammen, und ich würde Ihnen jede Vollmacht erteilen. Wirklich schade, dass Sie nicht zum Baseballgucken rüberkommen können. Wir treffen uns auf der Ranch, wenn nichts dazwischenkommt. Meine Frau mariniert Rippchen.«
»Nächstes Mal, Sir«, sagte Li herzlich.
Sie fachsimpelten noch eine Weile über Baseball. Li insistierte nicht weiter auf der Idee, die Vereinigten Staaten an die Spitze der Weltgemeinschaft zu setzen. Spätestens in zwei Tagen würde er glauben, es sei seine gewesen. Es reichte, ihm die Injektion verpasst zu haben.
Nach dem Gespräch lief sie noch einige Minuten. Dann setzte sie sich schweißnass, wie sie war, an den Flügel und legte die Finger auf die Tasten. Sie konzentrierte sich.
Sekunden später perlte Mozarts Klaviersonate in G durch die Suite. (493–96)
Kommissar Kringel
Dramatis personae: Der Präsident der Vereinigten Staaten
Die Augen des Präsidenten verengten sich zu Schlitzen. (562)
Schwarm-Biologien
Dramatis personae: »Greywolf«, Ex-Navy-SEAL und Delphin-Trainer
Greywolf zeigte auf ein gedrungenes Wesen, das zur Hälfte Säugetier und zur Hälfte Wal war. (676)
Ich denke, mit diesen paar Zitaten läßt sich bereits ein, uh, Bild gewinnen über die restlichen 955 Seiten. Ich sage nur (laut Wikipedia):
Corine 2004 in der Sparte »Belletristik«
Deutscher Science Fiction Preis 2005 (Science Fiction Club Deutschland)
Kurd-Laßwitz-Preis 2005 in der Sparte »Bester Roman«
Deutscher Krimi Preis 2005
Millionenfach verkauft. Jeden Tag. Oh, Sekunde — nicht jeden Tag. Das war die Bild.
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“Der Schwarm” ist ein Vertreter eines moderne Genres, das sich nicht mehr so leicht in die üblichen Schubladen einordnen lässt. Drum ist es mir schleierhaft, welche Massstäbe der o.a. Kritiker an diesen Roman angelegt hat. Die Eloquenz eines Hermann Hesse war wohl nicht wirklich zu erwarten und die Tiefgründigkeit von Max Frisch auch nicht. Und Bild-Niveau zu unterstellen, bei fast 1000 Seiten Handlungsgerüst?
Also bitte lieber Kritiker, mit so einer Aburteilung gegen den “Schwarm” zu schwimmen mag ja originell wirken. Schreibstile, gesellschaftliche Leitgedanken sowie Geschmäcker ändern sich eben und das Buch reflektiert lediglich den Zeitgeist.
Sind Sie sicher, noch aktuell genug zu sein?
@nol31 Immer wieder faszinieren mich Menschen, die einen Beitrag kommentieren, den ich nicht geschrieben habe. Faszinierend finde ich auch, daß Dich als Anhänger/Vertreter eines »modernen Genres« offenbar bereits der erste Satz in meinem Beitrag intellektuell überfordert:
Ob ich mir »sicher bin, noch aktuell genug zu sein«?
Das kommt ganz darauf an — wenn unverhohlen rassistische und sexistische Inhalte und die 1000seitige unbeholfene Aneinanderreihung von BILD-Faktoiden den modernen Schreibstil, den gesellschaftlichen Leitgedanken und die aktuellen Geschmäcker reflektieren, dann, in der Tat, würde ich mich als zurückgeblieben und altmodisch bezeichnen.
Hopsa: “intellektuell überfordert”? Da haben Sie sich aber ziemlich von mir provozieren lassen und sind in Ihrer Wortwahl gleich Ihrerseits intellektuell auf tiefes Niveau abgetaucht :-) “Treffer – versenkt…”? Assymetrie: „austeilen einstecken” können?
Sei‘s drum. Das Thema ist doch das Buch!
Eine literarische Meisterleistung ist „Der Schwarm“ sicher nicht. Trifft aber, wie schon erwähnt, den aktuellen Publikumsgeschmack und hebt sich aus den aktuellen „Dis-Infotainment-Romane“ im Stil von Dan Brown durch eine gewisse Originalität hervor.
„Rassistisch-sexistisch“ – meine Güte! Wie heikel und politisch korrekt muss man heute sein? Kann es sein, dass Sie einige, möglicherweise nur der Effekthascherei dienende Passagen, nicht etwas überbewerten? Ich bin (meine zumindest) sehr empfindlich bei dieser Art von Verunglimpfung und das Buch bzw. der Autor wären für mich in diesem Fall ziemlich abgemeldet.
Wir können noch viel über Einzelaspekte des Textes diskutieren, letztendlich erscheint es mir jedoch sinnlos, da insgesamt Geschmackssache.
Jegliche Renzession kann ich übrigens ohne weiteres akzeptieren, auch dann wenn diese meiner Meinung zuwiderläuft. Bloss: Sachlichkeit, fundierte Beispiele für Behauptungen, Toleranz anderer Meinungen –> immer wieder hilfreich für Akzeptanz und Wertschätzung!