a writer's blog

Outside the Box: Blogger im Schlafrock und das Bezahlweb des Holger Jung

Rachel Maddow: “‘real media’ in suits ... and bloggers in pajamas!”

Rachel Maddow: “‘real media’ in suits ... and bloggers in pajamas!”

Als Blogger bin auch ich Teil eines spezifischen Mediums, welches in letzter Zeit auf geradezu hysterische Weise unter Beschuß gerät. Blogeinträge, die sich damit beschäftigen, einschließlich der aktuellen Quellen, finden beispielsweise auf dem Werbeblogger [RIP], auf ConnectedMarketing oder hier auf between drafts.

Wie sich herausstellt, befinden sich Pöbler wie Lorenz, »riw.« oder Keen in denkbar bester konservativer Gesellschaft; dies umfaßt etwa Joe Scarborough (ehemals Scarborough Country, jetzt Morning Joe auf MSNBC), Senator Joe Lieberman und, das wird aller Herz erfreuen, Sarah Palin, in deren hermetisch abgeriegelter Vorstellungswelt Blogger Leute sind, die »im Keller des Hauses ihrer Eltern im Schlafanzug herumsitzen« und »Gerüchte verbreiten«. Worauf Rachel Maddow (The Rachel Maddow Show auf MSNBC) ihre Sendung vorübergehend im Schlafanzug moderierte:

You know, what is this myth of about being able to tell the “real media” from the bloggers—because the media is in suits and the bloggers are in pajamas?

Gefolgt von ihrer Aussage “I think of myself as a blogger on TV” in einem Interview nach ihrem Auftritt im Pyjama. Leider oder zum Glück, das läßt sich schwer entscheiden, fehlen uns hier in Deutschland zur Zeit noch Leute vom Kaliber Palin, die es fertigbringen, daß sich das Fernsehen mit der Bloggerszene solidarisiert.

Jedoch, wo der Rauch köchelnder kultureller Werte mit wildem Händewedeln hochgefächert wird, ist ein von kommerziellen Interessen geschürtes Feuer selten weit entfernt. Letztendlich ist die mit wechselnden Allianzen geführte Auseinandersetzung, zu der vor ein paar Tagen auch eine nette kleine Glosse von Christof Siemes in der Zeit [Achtung: Bezahlschranke] erschien, nur ein Scharmützel an den Seilen, wenn auch ein durchaus wichtiges, im umfassenden Team Wrestling Match namens Internet vs. Der Rest der Medienwelt. Welches auch nicht seit gestern erst im Gange ist: Die Diskussion über mögliche Methoden, Menschen im Internet zum Bezahlen zu bewegen, ist fast so alt wie das Medium selbst.

In den argumentativen Urgesteinen einer Zeit, als wir das Internet noch mit Netscape 3 erkundeten, schürft auch der neueste Beitrag Holger Jungs in einem Spiegel-Interview, zumindest, wenn es um dieses Thema geht. Ein Beitrag, dessen hoher paläontologischer Nutzwert nur noch übertroffen wird von seiner publikumswirksamen Rolle im andauernden Festival der Eitelkeiten und Koketterien, wie Patrick Breitenbach in seinem Werbeblogger-Beitrag [RIP] »Holger Jung, die Krise und wieder die bösen Internetnutzer« treffend darlegt.

Zwei Zitate von Holger Jung aus dem Spiegel-Interview:

Das Grundproblem der Werbung im Web wird dadurch aber nicht gelöst. […] Im Internet wird mit Werbung zu wenig Geld verdient. Weil die Leser nicht für die Nutzung von Online-Angeboten zahlen, fallen die Anzeigenpreise entsprechend gering aus. Die Margen im Web sind extrem niedrig. Deswegen wird Online zwar wachsen, aber die Einnahmen aus dem Print kann das Medium auf absehbare Zeit nicht ersetzen. Da muss ein Umdenken stattfinden.

Nicht taufrisch, doch akzeptabel. Und die Lösung?

Natürlich gibt es im Internet eine Gratiskultur. Die ist über Jahre gewachsen und lässt sich nicht von heute auf morgen abschalten. Das ändert aber nichts daran, dass wir mehr Bezahlangebote im Netz brauchen, damit dort mehr Geld verdient wird – auch mit Blick auf eine zukünftige Medienlandschaft, die vorwiegend im Web liegt. In anderen Online-Branchen funktioniert die Kostenpflicht schließlich auch. Die Kunden zahlen beispielsweise für Handy-Klingeltöne. Warum soll man das nicht auf Medienangebote übertragen? Die aktuelle Krise könnte den Leidensdruck schaffen, um den Prozess hin zu mehr kostenpflichtigen Angeboten zu forcieren.

Ich bin nicht sicher, was ich an diesen Ausführungen mehr bewundern soll: Ihre revolutionäre Innovativität oder ihre brillante Einsicht in die Mechanismen der Rezession. Thomas Kuhn wird zwar viel zu oft und viel zu rasch bemüht, aber mir scheint, als wäre das Paradigma »gratis vs. bezahlt« in den Neuen Medien schon als Wortwahl nicht Teil der Lösung, sondern des Problems. Der Versuch beispielsweise, »Information« und »Wissen« wieder einzutüten und als »Gratis-« und »Bezahlt«-Häppchen zu distribuieren, wäre nicht nur praktisch gesehen absolut lächerlich, sondern auch bedenklich im Rahmen einer Entwicklung, in der die Masseninformationshaltung in empfindlichen Bereichen zum staatlichen Privileg mutiert. Wenn sich auf der einen Seite unendlich ereifert wird über informationsverbreitende Dienste wie News-Aggregatoren, Google Street View oder Google Book Search, während auf der anderen Seite ein Gesetz nach dem anderen für informationshortende Dienste so gesunde demokratische Mehrheiten einfährt, daß Irland schon den ersten Schritt in Richtung Vorhaltung von Inhalten wagt, läßt sich die damit verbundene Irrationalität durchaus rational mit dahinterstehenden kommerziellen Interessen erklären. Wen interessieren schon schwammige Privatsphären, wenn es um handfeste Prozente geht? Und das scheinheilige Getue, daß es zum Beispiel um die Interessen darbender Musiker oder Schriftsteller gehe, ist allemal gut für zwei oder drei Strophen einer mediokren Büttenrede.

Alles wird sich ändern. In meinem Beitrag Inside the Box schrieb ich, daß wir gerade erst den Anfang einer Medienrevolution von gutenbergschen Ausmaßen erleben, und daß sich unser Leben und unsere Motivationen, warum wir etwas wollen und warum wir etwas kaufen, fundamental zu verändern beginnen — egal, wie sehr bestimmte menschliche Grundmotive und Antriebe »unter der Haube« erhalten bleiben. Eine nähere Beschäftigung mit der letzten Medienrevolution zeigt, wie erschreckend viele Berufsstände und damit einhergehende gesellschaftliche Strukturen im Zuge des Buchdrucks untergingen, wenn auch gewiß nicht kampflos und nicht sofort. Wäre es so unvorstellbar, daß Printmedien sowie mit den Printmedien verknüpfte Konzepte von Werbung und Marketing in fünfzig Jahren Teil der Geschichte geworden sind, die unsere Kindeskinder in der Schule über das 20. Jahrhundert lernen? Damit will ich natürlich keineswegs gleichzeitig prophezeien, daß die Bloggerszene, wie sie sich bis jetzt entwickelt hat, in dieser Form die nächsten Jahrzehnte übersteht. Jede einzelne Bloggerin, jeder einzelne Blogger ist zum Beispiel verwundbar gegen legislativen Druck und exekutive Macht, und das bestimmt nicht nur in China — wenn es hart auf hart kommt, würde ich mir zum Überleben der Bloggerszene keine Illusionen machen.

Gesellschaftliche und mediale Konzepte der Marke “outside the box”, auch genannt Visionen, sind es, was wir brauchen — nicht Blogger-Bashing oder eine Holgerjungsche Schrotflintenhochzeit von Internetnutzern mit Bezahlinhalten, um dem Baby Anzeigenpreise ein wachstumsförderndes Zuhause zu verschaffen. Grundlegende Veränderungen und gesellschaftliche Umwälzungen kommen auch ohne unser Zutun auf uns zu. Aber mit ein bißchen mehr Phantasie und Imagination können wir vielleicht Einfluß darauf nehmen, wie schmerzhaft sie werden und wie schmerzhaft sie für wie viele Menschen werden. Vielleicht klingt das für etliche fast schon zu optimistisch, aber als geschichtenerzählender Pragmatiker würde ich meine Einstellung in diesem abgewandelten Zen-Aphorismus zusammenfassen: “Change is inevitable. Suffering is optional.”

Share

If you have something valuable to add or some interesting point to discuss, I’ll be looking forward to meeting you at Mastodon!

Tagged as: ,

1 Response

Trackbacks

  1. Wann ist ein Blog ein Blog? | Werbeblogger – Weblog über Marketing, Werbung und PR » Blog Archiv » Wann ist ein Blog ein Blog?