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Zu Martin Oettings »Theorien statt Geschichten« und »Offener Brief an manche Werbekreativen in Deutschland«

brave new texts

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Wer schon mal etwas von meinem akademischen Krempel gelesen hat oder mich persönlich kennt, weiß, daß ich ein großer Fan von Theorie bin. Theorien, finde ich, sind oft die spannendsten Geschichten überhaupt! Die im Titel genannten Beiträge von Martin Oettings sind hier und hier und inspirierten mich zu diesem Ausflug.

Gemeint mit »Theorie« ist natürlich nicht die landläufige Bedeutung von der Sorte, »also ich hab da so ’ne Theorie, warum das nie klappt«, sondern eine faktengestützte, komplexe Annahme, die sich durch korrespondierende und fachübergreifende Beweise zu überwältigender Gewißheit verdichten kann — und trotzdem immer noch «Theorie» heißt, wie die Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie oder die Theorie der Evolution durch Natürliche Selektion. Eine weitere wichtige Eigenschaft dieser Art von Theorie ist, daß sie den Namen nur dann verdient, wenn sie prinzipiell widerlegt werden kann (wobei die Wissenschaftsgeschichte es aber nahelegt, zumindest vorübergehend bestimmte Ausnahmen zuzulassen und nicht dogmatisch an Popper zu kleben)1.

Allein diese Bedingung schließt enorme Mengen von Hirngespinsten als ernstzunehmende Theorien aus. Und genau das ist auch das Problem aller »Verschwörungstheorien«, deren hermetische Logik jeden erdenklichen Gegenbeweis als einen noch schlaueren, noch geschickteren, noch sinistreren Schachzug der Verschwörer interpretieren und in einen weiteren Beweis für die Theorie ummünzen kann. Was wiederum gerade auf dem Hintergrund der Neuen Medien aktuell ist, denn fast hat es den Anschein, als wären Verschwörungstheorien jahrhunderte- und jahrtausendelang in Büchern und Pamphleten gezüchtet und in Pogromen getestet worden, um nun im Internet mit knallenden Korken geöffnet und weltweit überschwenglich konsumiert zu werden. Als »Theorien« taugen Verschwörungstheorien nichts. Aber als Geschichten: Selbst dann, wenn sie so unterirdisch erzählt sind wie von Dan Brown. Wenigstens ein Bereich, wo Geschichten gesünder sind als Theorien!

Warum erzähle ich das alles. Weil ich durch den erwähnten zweiten Eintrag von Martin Oetting, den Offenen Brief, gewahr wurde, wie dringend unser Wissen um die Kommunikationsstrukturen in den Neuen Medien der Theoriebildung bedarf — und wie sehr unser Wissen zur Zeit ganz allgemein von polarisierendem Nonsens bestimmt wird, von orgasmischen Hymnen auf die intellektuelle Demokratisierung des Internets durch Soziale Netzwerke auf der einen Seite und so unsäglichem Medien-und-Eliten-Lobbyismus wie Andrew Keens The Cult of the Amateur auf der anderen. (Wer möchte, möge zur Erbauung auch in die Kommentare auf Amazon und LibraryThing schauen.)

Wie jedes andere Medium macht das Internet von sich aus nicht schlauer oder dümmer. Wie jedes andere Medium kann es uns entweder mit dem Licht schlauer Dinge bescheinen (Beispiel: Science Blogging) oder uns in Große Schwarze Löcher des Schwachsinns saugen (Beispiel: youtube-Kommentare; auch wenn hierzu eine Lösung mittlerweile gefunden und kurz darauf implementiert wurde, LOL).

Statt kritischem Testen und systematischem Ausloten dessen, was möglich ist und machbar, und vor allem sinnvoll, sind Anekdoten und Vorlieben wieder an der Tagesordnung. Wie schon der unsterbliche Claude Hopkins sagte:2

The losses occasioned in advertising by venturing on personal preference would easily pay the national debt.

Insbesondere nach den neuesten ökonomischen Entwicklungen mag das nicht mehr ganz zutreffen, aber ich habe so den Eindruck, daß viele aus unserer werbetreibenden Zunft sich mit Hilfe des Mediums Internet nach Kräften bemühen, diesen Vorsprung wieder aufzuholen.

1 All das gilt für die Natur- und Sozialwissenschaften; in den Humanwissenschaften ist das alles nochmal anders und nicht minder kompliziert, siehe zum Beispiel die Wikipedia-Einträge zu Critical Theory und Literary Theory.
2 Hopkins, Claude C. My Life in Advertising & Scientific Advertising. Chicago: NTC, 1998. S.24. 
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